Tobias Wiedemann
„Bei uns muss sich niemand verstecken oder schämen“
Ein Friseurbesuch ist nicht für alle selbstverständlich. Friseurmeister Tobias Wiedemann schneidet deshalb regelmäßig Bedürftigen kostenlos die Haare. Im Interview erzählt er, wie die Menschen dabei sich selbst und anderen wieder näherkommen.
Wie kamen Sie auf die Idee für das Projekt? Was ist die Motivation dahinter?
Die Idee dafür kam mir an einem Abend während der Coronazeit. Ich wollte etwas für die Menschen machen, die sich keinen Haarschnitt leisten können. In meinem Geschäft habe ich immer wieder gehört, dass viele Menschen finanziell notleiden, weil sie in Kurzarbeit gegangen sind oder ihren Job verloren haben. Da hatte ich die Idee für eine große Aktion, bei der wir bedürftigen Menschen kostenlos die Haare schneiden – gemeinsam mit dem Mehrgenerationenhaus. Das stellt unter anderem auch die Räumlichkeiten für die Aktion zur Verfügung. Der lokale LGBTQI*-Verein EinzigArtig unterstützt uns mit kostenlosem Kaffee und Kuchen.
Wie läuft das Angebot ab und wie wird es angenommen?
Die Lokalzeitungen bewerben unsere Aktion vorab. Damit die Menschen teilnehmen können, müssen sie ihre Bedürftigkeit nachweisen. Am Tag der Aktion können sie ohne Termin vorbeikommen. Mittlerweile fand der kostenlose Friseurbesuch schon drei Mal statt. Im Durchschnitt schneiden wir 80 bis 90 Menschen am Aktionstag die Haare. Dafür stehen mein Team und ich im Schnitt von 10 Uhr morgens bis abends um 18 Uhr durchgehend am Stuhl. Nach dem Haareschneiden bleiben viele der Teilnehmenden noch zum Kaffee und Kuchen essen und gemeinsamen Plausch. Wir organisieren auch einen DJ, der für Musik sorgt. Es ist ein echtes Event und die Menschen genießen die entspannte Atmosphäre und den Austausch mit anderen.
Was braucht es, um so ein Angebot zu realisieren?
Teamwork und Unterstützung aus mehreren Richtungen. Ich habe zuerst lokale und befreundete Friseurinnen und Friseure kontaktiert und auch über Facebook öffentlich gemacht, dass wir helfende Hände suchen. Nach und nach meldeten sich immer mehr Menschen und mittlerweile haben wir ein tolles Team, das reibungslos zusammenarbeitet. Beim ersten Termin waren wir noch vier Friseure, beim letzten Termin dann schon zwölf. Wir haben auch viele andere Helferinnen und Helfer, die beim Haarewaschen unterstützen oder Kuchen backen. Immer wieder rufen mich auch Leute im Laden an und sagen: „Das ist so ein schönes Projekt. Wenn ich irgendwie helfen kann, sagen Sie mir Bescheid und wenn es nur das Haarefegen ist.“ Es ist wirklich toll, wie viel Unterstützung wir für das Projekt bekommen, auch ohne konkret danach zu fragen.
Welche Menschen nutzen Ihr Angebot und welche Bedeutung hat es für sie?
Für die Menschen, die zu uns kommen, ist es ein ganz großes Glücksgefühl. Leute, für die ein regelmäßiger Friseurbesuch ganz normal ist, können sich nicht vorstellen, was ein neuer Haarschnitt für jene bedeutet, die sich das kaum leisten können. Es geht dabei um ein Gefühl der Zugehörigkeit, um das eigene Wohlbefinden und, ganz wichtig, den Kontakt zu anderen Menschen. Unser Aktionssalon ist ein geschützter Raum, in dem sich niemand verstecken oder schämen muss. Die Teilnehmenden verlassen den Friseurstuhl mit einem riesengroßen Lächeln oder auch vielen Freudentränen, weil sie einfach glücklich sind.
Was bedeutet Ihnen das Projekt und Ihr Engagement persönlich?
Es fühlt sich gut an, mein Handwerk für Menschen einzusetzen, die sich ehrlich darüber freuen. Etwas zu machen, das Menschen hilft, in den Lebensalltag zurückzukehren oder sich in ihrer eigenen Haut wohlzufühlen, das tut mir gut. Ich kann gar nicht zählen, wie viele Umarmungen ich an so einem Tag bekomme. Ich persönlich zehre wirklich lange Zeit von jeder Aktion. Natürlich ist es auch sehr anstrengend: eine intensive Geräuschkulisse, viele Menschen und Eindrücke. Aber am Ende des Tages sitze ich auf dem Sofa und sage: „Gott, war das ein geiler Tag!“ Und ich freue mich schon auf das nächste Mal.
Zur Person
Tobias Wiedemann ist 33 Jahre alt und lebt in der niedersächsichen Wedemark. Menschen aller Generationen nehmen auf dem Stuhl des Friseurmeisters Platz – seine jüngste Kundin war erst drei Jahre alt, die älteste über 80.
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