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"Unterschiede sind eine Chance"

Foto von Prof. Dr. Werner Mezger

Für den Kulturanthropologen Prof. Dr. Werner Mezger sind gemeinsam begangene Rituale eine gute Möglichkeit, Fremde in unsere Gesellschaft aufzunehmen. Bis Vertrautheit mit einer neuen Kultur entsteht, braucht es allerdings von beiden Seiten langen Atem – und die Bereitschaft, mit den Eigenarten des Anderen zu leben.

Herr Prof. Mezger, was verstehen Sie unter Heimat?

Heimat ist kein Begriff, der per se existiert. Heimat ist nichts Fixes, lässt sich nicht geografisch eingrenzen und lässt sich auch nicht allgemein verbindlich definieren. Wenn man zum Beispiel Menschen, die alle am selben Ort wohnen, eine Landkarte in die Hand gibt und sie auffordert, darin ihre Heimat einzuzeichnen, dann markiert jeder einen etwas anders umgrenzten Raum. Die Vorstellungen von Heimat sind also individuell ganz unterschiedlich. Das heißt aber keineswegs, dass es Heimat gar nicht gibt, sondern das heißt: Heimat ist gestaltbar.

Wie lässt sich Heimat gestalten?

Das gelingt am ehesten dann, wenn wir die geistige Dynamik aufbringen, unsere nächste Umgebung so zu gestalten, dass diejenigen, die hier zwar angekommen, aber noch längst nicht zuhause sind, bei uns eines Tages auch Heimat finden können.

Wie funktionieren Migration und Integration aus heutiger Sicht?

Wir werden immer mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger haben, die in zwei Kulturen gleichzeitig leben. Durch die digitalen Medien sind Zuwandernde heute immer auch noch ein Stück weit in ihrer Herkunftsregion daheim. Das birgt zwangsläufig die Gefahr in sich, mit der Aufnahmegesellschaft zu wenig oder gar nicht in Kontakt zu kommen. Mehrgenerationenhäuser können hier einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Fremde einzubeziehen und ihnen eine Heimat zu bieten.

In vielen Mehrgenerationenhäusern gibt es neben dem Offenen Treff auch gemeinsame Kochabende. Bedeutet Kochen auch kulturelle Verständigung?

Die kulinarische Ebene ist immer eine große Chance, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Viele Unternehmen praktizieren das inzwischen ganz bewusst. Verständigung kann auch durch den Magen gehen – und muss nicht auf den Magen schlagen. Kochen hat einen hohen Integrationswert. Das wissen selbst die Fernsehanstalten, denn da wird ja nicht von ungefähr in vielen Sendungen ständig geköchelt. Jedes Mahl ist gemeinschaftsstiftend. Miteinander zu essen, bietet immer eine Möglichkeit des Kulturkontaktes.

Was verstehen Sie unter gelebter Willkommenskultur?

Willkommenskultur zu leben, heißt offen sein und auch zuhören können. Die bewusste und respektvolle Wahrnehmung des Anderen ist eine große Bereicherung. Am besten erlebt man Mentalitäten, wenn man über Kulturgrenzen hinweg miteinander Feste begeht. In dem Moment, in dem Menschen gemeinsam feiern, geben sie viel von sich preis. Man könnte sogar sagen: „Zeige mir, wie du feierst, und ich sage dir, wer du bist". Gemeinsame Feste bieten immer eine gute Möglichkeit, sehr viel unkomplizierter miteinander in Kontakt zu kommen als im hektischen und hochgeschlossenen Alltag.

Oft spielen sich Feiern in den immer gleichen Kreisen ab. Können Fremde da überhaupt einen Zugang finden?

Ich denke, da muss jeder ein bisschen über den eigenen Schatten springen. Das gilt insbesondere für die Aufnahmegesellschaft, also für uns. Wir sollten vor allem versuchen, in möglichst ungezwungener Gesellschaft zu feiern. Da können die Leute sich immer wieder neu und in zwangloser Art und Weise mischen. Das geht bis zur Frage der Sitz- oder Stehkultur: Sämtliche Begegnungen, die ­– typisch deutsch ­­– an einer langen Tafel mit festgelegten Sitzplätzen stattfinden, sind wenig kommunikativ. Dort, wo viel gestanden wird, wo man durch bloßes Umdrehen plötzlich einen neuen Gesprächspartner hat, ist der soziale Ertrag des Miteinanders sehr viel höher.

Das Wort „Willkommenskultur" suggeriert etwas Einmaliges, Temporäres. Wie können wir eine nachhaltige Willkommenskultur schaffen?

Willkommenskultur hat in der Tat nicht nur etwas mit freundlicher Begrüßung zu tun. Die Wohlfühlparty zum Arbeitsbeginn reicht natürlich nicht zum Einstieg in eine neue Lebenswelt. Das kann nur der allererste Anfang eines langen Prozesses sein. Wenn dieser Anfang erfolgreich war, müssen alle Beteiligten über den Tag hinaus die Beharrlichkeit aufbringen, die Kontakte weiter zu pflegen. Da gibt es sicher auch mal Irritationen und kleinere Konflikte, die man aber, je besser man sich kennt, sogar mit Gewinn austragen kann. Die große Zauberformel lautet heute, mit der Differenz leben zu können und daraus Ressourcen zu schöpfen. Wir sollten Unterschiede nicht als Betriebsunfall, sondern als Chance für das Lernen voneinander und miteinander begreifen.