Wir werden immer älter, wir werden immer weniger – an diese Sätze denkt man häufig, wenn über den demografischen Wandel gesprochen wird. Dr. Reiner Klingholz, Geschäftsführer des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung berichtet aus der wissenschaftlichen Perspektive, wie die Prognosen der vergangenen zwei Jahrzehnte zum demografischen Wandel beschaffen waren, was für die kommenden Jahre zu erwarten sein wird und wie der Wandel gestaltet werden kann.
Herr Dr. Klingholz, Sie forschen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. In der medialen Diskussion wird der demografische Wandel häufig mit der Überalterung der Gesellschaft gleichgesetzt. Was verbirgt sich dahinter?
Der demografische Wandel ist eine Folge der Tatsache, dass es den Menschen immer besser geht. Sie bekommen mehr Bildung, leben in größerem Wohlstand und können ihr Leben planen. Dies ermöglicht eine individualisiertere Lebensweise, die allerdings auch zu einem Geburtenrückgang führt. Hinzu kommt, dass die Menschen länger leben. Deshalb altern die Gesellschaften – übrigens fast überall auf der Welt. Der Begriff einer Überalterung ist somit eigentlich verzerrend, weil er einen Vorgang dramatisiert, der ganz normal ist. Trotzdem bedeutet der damit verbundene Wandel eine große Herausforderung, da künftig weniger Erwerbstätige für mehr Ruheständler aufkommen müssen. Damit stellt sich die Verteilungsfrage.
Ihr Institut analysiert bereits seit dem Jahr 2000 den demografischen Wandel. Sieht die deutsche Gesellschaft heute so aus, wie zu dieser Zeit prognostiziert?
Die gängigen Vorausschätzungen aus dem Jahr 2000 sahen die Bevölkerung bis Ende 2016 auf 80 bis 81 Millionen schrumpfen, tatsächlich waren wir 82,8 Millionen. In diese Berechnungen fließen die durchschnittlichen Kinderzahlen je Frau und die Lebenserwartung ein. Beide Faktoren haben sich weitgehend so entwickelt, wie es 2000 absehbar war. Das heißt, die Geburtenziffer liegt noch immer so niedrig, dass jede Kindergeneration die ihrer Eltern nur zu zwei Drittel ersetzt und die Lebenserwartung ist weiter gestiegen, um knapp drei Jahre pro Jahrzehnt. Der Fehler in der Prognose kommt einzig durch den dritten demografischen Faktor zustande: die Zuwanderung. Sie ist seit sechs Jahren stärker ausgefallen als damals angenommen. Zuwanderung ist allerdings nichts Neues: Ohne neue Mitbürger aus anderen Ländern hätten wir bereits seit 1972 in jedem Jahr an Bevölkerung verloren.
Im Jahr 2015 sind viele Geflüchtete nach Deutschland gekommen – dies ist ein Faktor, der in langfristigen Untersuchungen zur Bevölkerungsentwicklung gar nicht bedacht werden konnte. Inwieweit beeinflusst der Zuzug von Geflüchteten den demografischen Wandel in Deutschland?
Sie erhöhen zunächst die Einwohnerzahl. Und sie verjüngen das Land, weil überwiegend Menschen unter 30 Jahren kommen. Dadurch dürften sich auch die Nachwuchszahlen erhöhen. Wie das alles den demografischen Wandel beeinflusst, wird sich aber erst langfristig zeigen, denn es hängt davon ab, wie sich die Flüchtlingszahlen weiterentwickeln. Und davon, ob diese Menschen dauerhaft bei uns bleiben. Die meisten der Jugoslawienflüchtlinge aus den 1990er Jahren sind ja später wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.
Die Gesellschaft steht dem demografischen Wandel nicht ohnmächtig gegenüber, sondern kann ihn gestalten. Können Sie uns ein Beispiel nennen, wie und mit welchem konkreten Ziel freiwilliges Engagement zur Gestaltung des demografischen Wandels beitragen kann?
Die Menschen engagieren sich bei der Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen, sie kümmern sich um Ältere oder sie bemühen sich, die Versorgung in jenen ländlichen Gebieten aufrecht zu erhalten, die stark an Bevölkerung verloren haben. Dort fahren freiwillig Engagierte jetzt zum Teil Bürgerbusse, eröffnen Dorfläden, gründen Pflegenetzwerke, Nachbarschaftshilfen oder private Schulen. Diese Initiativen ersetzen Angebote, die wegen des Bevölkerungsschwundes in ihrer alten Form nicht mehr rentabel waren. Mit Mut, Kreativität und Engagement kann aber ein besseres Lebensumfeld entstehen, das auch für eine alternde Bevölkerung attraktiv ist.