Was waren für Familien die größten Herausforderungen in der Pandemie?
In der Pandemie haben die Familien aufgefangen, was an anderer Stelle weggebrochen ist. Eltern mussten ihre Kinder weiter erziehen, aber auch die Freizeit stärker selbst gestalten. Sie haben das Homeschooling begleitet und zum Teil noch selber nebenher im Homeoffice gearbeitet. Alles fand plötzlich nur noch zu Hause statt. Das hat viel Kraft gekostet und auch dazu geführt, dass Corona wie ein Brennglas die sozialen und psychologischen Situationen in den Familien aufgezeigt hat. Bereits zuvor belastete Familien kamen in dieser Zeit schlechter zurecht. Hier gab es mehr Konflikte, Depression und Resignation. Und wenn Kinder und Jugendliche sowieso schon Rückzugstendenzen aufgewiesen haben und zum Beispiel ungern zur Schule gegangen sind, hat sich das ebenfalls verstärkt. Sie waren noch schlechter erreichbar und sind beim Unterricht komplett ausgestiegen.
Welche Rolle haben digitale Kompetenzen und die Ausstattung mit Endgeräten in der Pandemie gespielt?
Eine ganz zentrale. Der Bildschirm war fast das Einzige, was Kindern und Jugendlichen noch geblieben ist. Sie haben darüber gelernt, den Kontakt zu Freundinnen und Freunden gehalten und häufig auch ihre Freizeit gestaltet. In der Pandemie ist aber auch ganz schnell deutlich geworden, wie unterschiedlich hier die Situationen sind – in den Familien, aber auch in den Schulen. Einige wenige Schulen waren gut ausgestattet und konnten ohne große Probleme auf den digitalen Unterricht umstellen. Aber an vielen Stellen war das nicht möglich, weil die Rechner und Tablets in den Familien fehlten und die Schulen hier auch nicht aushelfen konnten. Unserer Erfahrung nach wurden damit ungefähr 20 Prozent der Kinder abgehängt. Die digitalen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen beschränken sich darüber hinaus häufig auf den passiven Konsum. Wenn man die Digital Natives fragt, dann fühlen sie sich selbst häufig nicht kompetent. Sie schauen YouTube-Videos und spielen Computer-Spiele. Aber die meisten können die digitalen Medien nicht wirklich gewinnbringend nutzen, Informationen daraus ziehen und verarbeiten.
Welche Unterstützung war für Familien in dieser Situation wichtig?
Neben unmittelbaren Angeboten wie der Verleihung von digitalen Endgeräten oder der Unterstützung beim Distanzunterricht ging es vor allem darum, Ängste und Unsicherheiten zu nehmen. Eltern haben sich zum Beispiel häufig Sorgen darum gemacht, dass die Bildschirmzeit ihrer Kinder so stark zugenommen hat. Unser Ansatz war, sehr stark zu unterscheiden, was sie in dieser Zeit genau machen. Wenn sie Schulaufgaben erledigt oder soziale Kontakte gepflegt haben, aber auch wenn sie zum Beispiel kognitiv anspruchsvolle Strategiespiele gespielt oder Bewegungsvideos auf YouTube geschaut haben, konnten Eltern das entspannt betrachten. Kinder und Jugendliche hatten ja oft keine anderen Möglichkeiten. Unter strengen Zeitbegrenzungen durch die Eltern hätten die Beziehungen in den Familien gelitten. Das hätte niemandem geholfen.
Was brauchen Familien jetzt aus Ihrer Sicht besonders?
Es kommt vor allem darauf an, wieder Begegnung zu ermöglichen und dafür Räume außerhalb der Familie zu schaffen. Kinder und Jugendliche müssen wieder zur alten Selbstständigkeit beim Lernen und der Freizeitgestaltung zurückkehren. Sie brauchen jetzt viel Redezeit, Bewegung, soziale Kontakte und Ermutigung bei der Entfaltung ihrer Stärken. Darüber hinaus müssen natürlich Lernlücken geschlossen werden. Die Eltern können sich bei alldem langsam zurücknehmen und das wieder vermehrt externen Institutionen überlassen. Mehrgenerationenhäuser bieten tolle Möglichkeiten, um Beziehungen aufzubauen, gemeinsam Spaß zu haben, zu lernen und Anregungen zu erhalten.
Sehen Sie auch einen positiven Effekt, der aus der Pandemie resultiert?
Auf jeden Fall. Einrichtungen, die Unterstützung und Freizeitgestaltung für Familien anbieten, konnten viel über sich selber lernen. Die Pandemie hat noch einmal stärker gezeigt, welche Familien sie gut erreichen und welche nicht. Jetzt können sie reflektieren und schauen, wie sie ihre Kommunikation in Zukunft ausbauen können. Dabei geht es natürlich auch darum, besonders zu sozial benachteiligten Familien ein gutes Verhältnis aufzubauen, damit diese dann auch in Krisenzeiten gut erreicht werden können. Und dafür bieten sich jetzt bessere Chancen denn je. Denn die Dankbarkeit für die Angebote ist viel größer als vor der Pandemie. Die Eltern, Kinder und Jugendlichen haben richtig Lust, diese wieder wahrzunehmen.
Zur Person
Dr. Hermann Scheuerer-Englisch ist Diplom-Psychologe und stellvertretender Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung in Bayern, einem Fachverband, der sich aus Fachkräften von Erziehungsberatungsstellen zusammensetzt.